Wie eine Mutter ihren Sohn kennt

in blurtgerman •  3 years ago  (edited)

Liebe Leserinnen und Leser,

gerade ist mir eine Geschichte aus meinem Leben eingefallen, die nichts mit Frauen als meine Beziehungspartnerinnen zu tun hat. Da dachte ich mir, diesen Zufall sollte ich nutzen und die Geschichte für euch aufschreiben.

Ich war schon viele Jahre aus meinem Elternhaus ausgezogen, besuchte aber meine Mutter, zu der ich immer ein sehr gutes Verhältnis hatte, relativ regelmäßig alle paar Wochen. Ich wohnte ca. 50 Kilometer von ihr entfernt.

Eines Tages war ich wieder bei ihr zu Besuch. Wir hatten den Kaffee in unsere Tassen eingeschenkt, da schob mir meine Mutter mit einem Lächeln, vielleicht einem etwas stolzen Lächeln, ihr Tageszeitung über den Tisch zu.

Sie hatte schon ewig eine für ihren Wohnort regionale Tageszeitung abonniert. Das Main-Echo, das eigentlich mit meiner Region gar nichts zu tun hat.

Als sie mir diese Zeitung lächeln zuschob, sagte sie dazu: „Ich wusste sofort, dass du das warst.“

Die große Überschrift eines Artikels sprang mir sofort ins Auge: „Kirchenbesetzer brachten ihren Glaser gleich mit“.

Meine Mutter wusste gar nichts davon, dass wir in Hanau geplant hatten, eine Kirche zu besetzen oder davon, dass wir schließlich eine besetzt hatten. Sie hatte nur zufällig diesen Artikel in ihrer Zeitung gelesen und war sich sofort sicher … der Glaser war ihr Sohn.

Also, die Geschichte trug sich so zu. Nachdem wir in Hanau eine Wohnung als Demonstration gegen Mietwohnungsmangel besetzt hatten, erweiterten wir unser Aktionsfeld auf eine Kirche. Wir dachten uns, das würde mehr Öffentlichkeit herstellen.

An der Kirche angekommen, bildeten wir eine Menschentraube vor der Seiteneingangstüre. Vorher hatten wir natürlich geschaut, ob es andere Möglichkeiten gäbe, in die Kirche einzudringen. Ich stand nicht in den ersten Reihen, als ich plötzlich einen Schlag und das Geräusch von zersplittertem Glas hörte. Meine Politfreunde hatten also eine Scheibe zertrümmert, konnten die Türe darauf hin problemlos öffnen, und wir alle konnten in die Kirche gelangen.

Als ich das zertrümmerte Fenster sah, dachte ich mir aber unwillkürlich, dass so etwas bei der Bevölkerung bestimmt gar nicht gut ankommen wird; gerade auch noch, wenn es an einer alten Kirche geschieht.

Ich bin also erst gar nicht mit hinein in die Kirche, sondern sammelte die Scherben auf. Das zertrümmerte Fensterteil dieser sprossenverglasten Türe war nicht besonders groß, und so konnte ich auf der Rückseite eines Flugblattes mit einem Kuli die Maße des Rahmens markieren.

Und sofort ging’s los zu meinem Auto. Zum Glück hatte meine damalige Beziehungspartnerin Lust, mit zu kommen, und wir düsten zur ersten Glaserei in Hanau.

Ich weiß es heute nicht mehr, ob es am Wochentag oder der späten Uhrzeit lag. Auf jeden Fall hatten alle Betriebe geschlossen.

Für heute ist das das schwer vorstellbar, aber damals wohnten solche Handwerksmeister und Firmenbesitzer oft über oder neben der Werkstatt.

Zwei Glasermeister konnten wir erfolgreich aus ihren Privaträumen klingeln. Sie mussten aber wegen der besonders seltenen und alten Glasart leider passen.

Beim dritten Glasereibetrieb hatten wir Erfolg. Der Meister schaute sich das Stück Scherbe an und sagte, wie aus der Pistole geschossen: „Danziger Glas“. Er kramte aus einer Ecke seines Lagers eine verstaubte Scheibe hervor. Das war’s. Genau das richtige Glas. Er schnitt uns eine Scheibe auf die gewünschten Maße zu, ein paar Mark auf die Hand mit einem herzlichen Danke, und weiter ging’s.

Erst zu mir in meine Werkstatt, um Fensterkitt und eine Kitt-Spachtel zu holen. Danach wieder zurück zur Kirche.

Ich kittete die neue Scheibe ein, während mir meine Freundin eine schöne Selbstgedrehte reichte.

So, danach konnten wir erst mal drinnen in der Kirche mit unseren Leuten schön entspannen.

Es dauerte nicht lange, da kam der Pfarrer, der wahrscheinlich von Anwohnern alarmiert worden war, durch diese Türe in die Kirche hinein. Er hatte anscheinend ein sehr aufmerksames Auge und hatte wohl sofort diese frisch eingesetzte Scheibe bemerkt und still seine Schlüsse gezogen. Was dazu führte, dass er uns freundlichst begrüßte und uns nach einiger Zeit der Unterhaltung seine Schlüssel für die Gemeindeküche übergab mit der Bemerkung, dass wir so viel Kaffee verbrauchen dürften, wie wir wollten und wahrscheinlich auch noch ein paar Kleinigkeiten zu essen für uns dort zu finden sei.

Also, der Glaserei-Einsatz hatte sich jetzt nach dieser Freundlichkeit schon mal echt gelohnt.

Nach der sehr freundlichen Presse-Berichterstattung genossen wir natürlich auch viel Sympathie.

Und was lehrt uns diese Geschichte?

Mütter kennen ihre Söhne besser, als die Söhne dies annehmen würden.

Und, auch eine Kirchenbesetzung half nicht gegen Mietwohnungsmangel.

Ich wünsch‘ euch ein schönes Wochenende!

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I loved the story. You seem to be quite a character, the glass part shows that you have good values and principles. Greetings

  ·  3 years ago  ·  

Oh, thank you very much!
Your assessment of my person pleases me very much!
See you ...
Very dear greetings, @double-u

  ·  3 years ago  ·   (edited)

Hihi, von deiner "wilden Hausbesetzerzeit" weiß ich wohl, aber dass dann auch noch eine Kirche dabei war. Tztztz... ;-)

Wirklich sehr nett, die Episode mit dem Glasermeister. Ein kleines bisschen Nachdenken über Konsequenzen ist manchmal nicht schlecht - an dieser Stelle hättet ihr den Pfarrer sonst - bei aller Christlichkeit - sicher nicht auf eurer Seite gehabt.

Schön, von dir auch mal wieder etwas Episches zu lesen - hat Spaß gemacht!

Schönes Wochenende,
Chriddi

  ·  3 years ago  ·   (edited)

Ja, nachdem ich dir gestern am Telefon von der Kneipenbesetzung erzählt hatte, fiel mir diese Kirchenbesetzung wieder ein.

Und da es bei BLURT Spaß macht zu posten ...

Servus Werner,

würd sagen eine löblche typische @double-u Aktion!
Sollten sich die heutigen Demonstranten ein Stück davon abschneiden.

Zur Zeit sind es "noch" Basball Schläger und vieles mehr
aber wenn die ersten Aufmärsche mit Waffen kommen...
hoffe das es am Mittwoch Friedlich bleibt (USA)


Erst zu mir in meine Werkstatt, um Fensterkitt und eine Kitt-Spachtel zu holen.

😅 Wer kann das heute noch von sich behaupten das man sowas zuhause lagernd hat!??

lg 🤠

  ·  3 years ago  ·  

Du kannst dir nicht vorstellen, was oder wie viele Gewerke hier bei mir lagern.

Meine Umzüge sind sehr bekannt und gleichen einem kleinen Stadtfest ;-)
(Von der Anzahl der Helferinnen und Helfer her gesehen)

  ·  3 years ago  ·  

Hihi, was für eine nette Geschichte mit Weitsicht... Wünsche dir ein schönes Wochenende

  ·  3 years ago  ·  

Dankeschön!

Das wünsch' ich dir auch!

  ·  3 years ago  ·   (edited)

Ich frage mich, wer geschossen hat, wem die Pistole ins Glas geschossen wurde.

  ·  3 years ago  ·  

Oh no, there was no shooting.

The window was smashed.
The glazier immediately knew what kind of glass we need.

In German, we say when someone knows the answer immediately:
"he said it as if shot from a pistol"

Because he said it so quickly ;-)

  ·  3 years ago  ·  

Ach wie schön...!!!

  ·  3 years ago  ·  

... das freut mich!

Hi @ double-u, how are you?

wao, that story reminds me of when my husband was single. He and my mother-in-law told me stories of when he fought for the interests of the students at the University and they were very risky.

Thank God you were able to get someone to fix the glass, you took care of something that they damaged that shows that you are a responsible person with good principles.

Always It is good to fight for a cause but act responsibly.

Happy weekend.

  ·  3 years ago  ·  

Thank you!

I wish you a nice weekend too!

  ·  3 years ago  ·  

Eine erstaunliche Geschichte! Danke für die Offenheit! Ich selbst habe bemerkt, dass manchmal weiß, wie die Dinge bei meinen Kindern.
Es scheint mir, die Eltern haben eine genetische Verbindung mit den Kindern, wir fühlen Sie, wo immer Sie sind.

Heute ist es unwahrscheinlich, dass jemand wie Sie Glas einfügen...
Was für ein Chaos vor kurzem in der Nähe des Kapitols.

Ja, bei solchen Geschichten kommen wieder Erinnerungen an längst vergangene Zeiten auf.
Hausbesetzer gab es bei uns keine, aber die ein odere andere "Sache" haben wir uns uns auch geleistet. :innocent:

  ·  3 years ago  ·  

Nice thanks

  ·  3 years ago  ·  

Dank der Online-Übersetzung konnte ich dieses interessante Abenteuer lesen, wie gut sie mit guter Absicht handelten und Sie konnten das Glas reparieren, alles tun, ohne andere zu verletzen Es wird immer bessere Ergebnisse geben. Ich habe mir diese Art von Kampf in anderen Ländern nicht vorgestellt, aber ich sehe, dass wir vielerorts gemeinsame Kämpfe haben Dass sie ihre Ziele bald erreichen, ohne gewalttätig werden zu müssen, gewinnen am Ende einfach immer.

  ·  3 years ago  ·  

Das war wohl die Hand Gottes im Spiel... ;o)

  ·  3 years ago  ·  

Haha ... fast!

  ·  3 years ago  ·  

Oh da können sich ein paar Menschen etwas dickes anschauen bei dir!
Schade das es nicht zur Verbesserung des Mietwohnungsmangels geführt hat, trotzdem eine tolle Aktion.

Immer wieder überraschend wie die Mütter ihre Söhne kennen. Ich finde es auch sehr toll wenn das Mutter Sohn Verhältnis gut ist.
Das wünsche ich mir für mich (und meinen Buben) auch.
Danke

  ·  3 years ago  ·  

Dankeschön!
Ich wünsch's euch auch!

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  ·  3 years ago  ·  

Diese Seite kannte ich nicht von Dir. War bestimmt eine sehr aufregende Zeit. Zu die3ser speziellen Geschichte. Einfach wunderbar. Stoff für eine sehr erfolgreiche Kurzgeschichte, Kurzfilm.

LG Michael

  ·  3 years ago  ·  

Sehr schön Werner, interessant zu lesen... errinert mich, habe als 4 jährige eine schlimme Erfahrung mit Glasscherben...

Thanks for sharing, there was so much more to learn here.

  ·  3 years ago  ·  

Thanks for share your information

  ·  3 years ago  ·  

Hello @double-u sir , how are you?